musik schmecken…

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ästhesia war eine vorzügliche musikerin. sie war 18 und spielte neben einstudierten klassischen stücken vom ersten tag ihres musikstudiums eigene kompositionen. musik war ihr leben. sie spielte gern, üben war kein thema, alles klang gekonnt und wohltemperiert. schon immer hatte sie beim hören und spielen von musik geschmackswahrnehmungen. in letzter zeit verstärkten sich diese unerhört. ihr lief wasser im mund zusammen, wie wenn man in eine zitrone beisst. es schüttelte sie, so bitter fühlte es sich auf ihrer zunge an, als hätte sie auf eine muskatnuss gebissen. und süss wie kandiszucker schmolz es quer über ihre backennerven. und jedesmal musste sie sich zusammennehmen, es nicht zu zeigen. niemand sollte es merken. noch nie hatte sie von anderen gehört, dass sie musik schmecken konnten.

als erstes sagte sie es ihrer musiklehrerin. die zog die stirne kraus und hatte den verdacht, dass die junge frau simulierte. eine weile verdrängte sie
das ihr anvertraute. dann sah sie, wie ästhesia mehr und mehr ihr gesicht verzog, je schwieriger die zu spielenden stücke wurden. fast konnte sie es nicht mehr mit ansehen. ästhesia war wie erleichtert, als die lehrerin sie noch einmal darauf ansprach und sich nach allen einzelheiten erkundigte, so, als wolle sie eine doktorarbeit darüber schreiben. sie notierte sich auch das ein oder andere. danach war erst mal eine weile nichts mehr.
die musiklehrerin verständigte ihre kolleginnen und kollegen und fragte, ob sie davon je gehört hätten. niemand kannte so etwas. doch nach den schilderungen der lehrerin beschlossen sie, die sache ernst zu nehmen. die sekretärin machte sich schlau und fand die adresse einer klinik in der schweiz, die untersuchungen machte, um solchen ausgefallenen wahrnehmungen auf die spur zu kommen. sie hatten herausgefunden, dass es menschen gab, die musik in farben sahen. die hirnforschung beschäftigt sich seit langem mit der veränderung des hirns bei musikerInnen, die durch das immense lernpensum schon in frühen jahren in ihrem hirn veränderungen gegenüber normal lernenden aufweisen.
die sekretärin konnte einen termin ausmachen. die schweizer ärzte freuten sich auf ästhesia. schliesslich waren sie in den anfängen und an dem fortkommen ihrer forschungen sehr interessiert.
ästhesia war sehr gespannt, was diese ärztinnen und ärzte herausfinden würden. mit ihrer lehrerin flog sie von hamburg nach zürich. sie flog gern, es war ihr erster flug in einer so kleinen maschine, einer jumbolino der swiss.
die wolken faszinierten sie so sehr, dass sie sie empfand wie musik. aber nein, da waren flugtöne, töne, die das flugzeug machte. sie konzentrierte sich voll auf das, was sie hörte. es war wie bei ihren bachimpressionen, es schmeckte nach allem möglichen und doch ganz anders, als wenn sie auf den tasten ihres klavieres herumwirbelte. irgendwie penetranter, fast aufdringlich. sie war fast froh, als sie das flugzeug wieder verlassen konnte.
in zürich empfing sie dr. akra. er brachte sie zum institut für neuropsychologie der universität zürich. sie erfuhr, dass bei einem von ca. zweitausend menschen das wahrnehmungsphänomen des farbesehens beim hören oder spielen von musik vorkommt. das schmecken von tönen ist ganz neu und wird erst nach längeren tests erklärt werden können. ästhesia ist aufgeregt und weiss nicht, ob sie sich über ihre aussergewöhnliche begabung freuen soll, oder eher als versuchskaninchen fühlen muss.
die musiklehrerin, die übrigens frau salwann heisst, und ästhesia gehen erst einmal zu ihrem hotel, ehe sie sich die beine bei einem stadtbummel vertreten. im wahrsten sinne ‚ver’treten. zürich ist so ganz anders als hamburg, dieser weltstadt mit strahlenden fassaden. zürich ist eher wie ein grosses dorf, so, als wären mehrere kleinere dörfer zu einem grösseren zusammengeschmolzen – aber sehr reizvoll. ästhesie fallen die ersten zeilen des gedichtes von gottfried benn ein: ‚ meinen sie zürich zum beispiel sei eine tiefere stadt, wo man wunder und weihen immer als inhalt hat?…’ das ‚manna’ in der nächsten strophe reizt ihre geschmacksnerven dermassen, dass sie diese abkühlen muss mit einem softeis.

was dann kommt, ist anstrengend. in die klinik, warten, tests ohne nennenswerte ergebnisse, tests und wieder tests. zum glück darf sie dabei immer musik spielen und ist dann hin und weg, so dass die herren professoren sich ihrer bedienen können, als würden sie einen kürbis ausnehmen. so kommt sie sich vor mit den hörner, die man auf ihrem kopf anbringt. die speichelproben sind weniger angenehm. die hautoberfläche wird erfühlt mit speziellen sensoren. die musik, die sie spielt, muss unterschiedlich sein, um den feinheiten ihres so aussergewöhnlichen empfindens auf die spur zu kommen. es trösten die freien stunden, in denen sie nun lieber in den botanischen garten geht, als in die stadt. hotels sind auf die dauer langweilig. aber sollte sie die musik zu ihrem beruf machen und auf bühnen spielen müssen, wäre diese mehr oder weniger langweiligen umgebungen mit den auftritten gekoppelt. noch dachte sie nicht daran, liess die entscheidung noch offen. gespannt war sie dagegen auf die ergebnisse ihrer untersuchungen. klingt, als habe sie eine unbekannte krankheit – klinik, institut… es vergingen wochen. dazwischen konnte sie immer mal nach hamburg fliegen. in einer guten stunde war das zu machen – abgesehen von den an- und abfahrten zum flughafen.
bei den psychologischen tests stellte sich, wie nebenbei heraus, dass sie die musik, wie die anderen testpersonen, auch in farben und formen sehen konnte. sie malte und malte – die streicher in geschwungenen linien, die zupfinstrumente in kreisen und punkten. sie war ziemlich gestresst, obwohl sie selbst am neugierigsten war, wie das alles zusammenpasste. es hatte sich herausgestellt, dass eine kleine terz nach zucker, eine kleine sexte nach sahne schmeckt, quinten nach wasser. popmusik ist einfach ungeniessbar wegen der vielen dissonanzen…. und dass die verbindungen bei ästhesia konstant sind.
dann waren die tests erst einmal abgeschlossen.sie wurde noch gefragt, ob sie weiterhin bereit sei, sich für weitere tests zur verfügung zu stellen. und andere termine bei vorträgen – nur hin und wieder – wahrzunehmen. sie hielt sich die beantwortung offen, obwohl sie wusste, dass sie sich da nicht drücken konnte. aber erst einmal wollte sie wieder nachhause und musik machen, ohne verkabelt zu sein, ohne all die neugierigen fragen, ohne die fremden befindlichkeiten um sich herum.
ästhesias einmaligkeit stand in vielen fachzeitschriften. sie fühlte sich besonders, aber auch gedrängt. sie wollte nun mit den jungen menschen sprechen und sie fragen, ob ihnen so etwas nicht ebenso widerfährt. der hintergedanke dabei war, dass sie einen ersatz für sich suchte, personen, die sich für weitere test bereit erklärten, damit sie ihre musik nicht vernachlässigen musste. denn das wollte sie, musik machen.

Gottfried Benn

Reisen

Meinen Sie Zürich zum Beispiel
sei eine tiefere Stadt,
wo man Wunder und Weihen
immer als Inhalt hat?

Meinen Sie, aus Habana,
weiß und hibiskusrot,
bräche ein ewiges Manna
für Ihre Wüstennot?

Bahnhofstraßen und Ruen,
Boulevards, Lidos, Laan –
selbst auf den Fifth Avenuen
fällt Sie die Leere an –

Ach vergeblich das Fahren!
Spät erst erfahren Sie sich:
bleiben und stille bewahren
das sich umgrenzende Ich.