ANS FENSTER TRETEN…

FRIEDERIKE MAYRÖCKER

da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete

ich besitze ein wunderbares büchlein von julia kospach mit gesprächen über
LETZTE DINGE mit FRIEDERIKE MAYRÖCKER und ILSE AICHINGER – ausgestattet mit assemblagen von daniel spoerri.
als kostbarer schatz steht es gleich fassbar neben mir im buchregel.
das büchlein, das nur vom format her klein ist, und ich sonst als ein großes bezeichne, mit entstehungsdatum 2008, gibt mir die möglichkeit, immer mal wieder danach zu greifen und mich den LETZTEN DINGEN zu widmen.
anders als friedrike mayröcker, die die tatsache des todes überhaupt nicht akzeptieren konnte und anders als ilse aichinger, die ihn herbeisehnte, kann ich meinen platz gegenüber des todfeindes noch nicht einnehmen.
friederike mayröcker schreibt seinerzeit:


Wenn ich denke, was für eine Lebenszeit andere Lebewesen haben! Riesenschildkröten erreichen ein hohes Alter, manche Bäume werden über 500 Jahre alt, und gerade der Mensch, die sogenannte Krönung der Schöpfung, muß mit 80 oder 90 jahren abtreten?
sie hat dieses alter überschritten. nach den LETZTEN DINGEN habe ich gar nicht mehr damit gerechnet, dass sie sterben könnte. ist sie ja vielleicht auch nicht.
in ihren werken und ihrem tun wird sie noch lange in erinnerung bleiben – so hoffe ich. in unserer kultur will man nach dem tod nicht in vergessenheit geraten – in anderen soll man keine spuren hinterlassen. ja, was denn nun…
ILSE AICHINGER starb 2016
friederike mayröcker am 4. juni 2021
DANIEL SPOERRI ist 91 jahre

mandelbaum verlag – vergriffen
gebraucht angeboten für 120 euro

SPIEGELBILD…

GESPIEGELTE BILDER…

Es kommt vor…
‚Es kommt vor, dass man im Spiegel sich übersieht…’

Rennt er an mir vorbei, der Spiegel, oder ich an ihm? Er spielt sein Spiel mit mir. Den scharfen Blick verweigert er durch Entzug. Er entzieht sich mir. Aber wie – wie macht er das? Heute hat er sich ganz in Schweigen gehüllt. Er ist verhangen, verhangen, wie mit Nebel. Er verweigert mir mein Bild. Mein Bild von meinem Angesicht. Ich weiss nicht, ob es mir recht ist, oder ob ich mich darüber empören soll. Will ich mich denn sehen, mir mitten ins Gesicht schauen und am frühen Morgen schon? Sei ehrlich. Es ist dir so doch lieber. Die Botschaften, die du erhalten würdest, können dir so deine Gelassenheit nicht rauben. Das Bild, das du von dir hast, entspricht nicht im Geringsten dem des Spiegelbildes. Du hast die Chance, so in die Welt hinein zu stolzieren und mit Lockerungs- und Lächelmirzu-übungen deine verhärmten Gesichtsausdrücke zu lockern. Bis zum Abend haben sich ganz zaghaft heitere Erlebnisse und Begegnungen mit Freundinnen eingeschlichen. Sie mildern die harte Mimik um ein Minimales. Der Schock ist um ein Quentchen geringer.
Jedesmal, wenn ich in den Spiegel schauen will, verlaufe ich mich. Er hängt nicht an einem anderen oder verborgenen Platz. Er hängt genau da, wo er bisher gehangen hat. Unübersehbar. Ich will dem Verlaufen auf die Spur kommen. Gestern landete ich im Atelier und fing an zu malen, obwohl ich in den Spiegel schauen wollte. Wollte mich vielleicht begrüssen, mir selbst eine nette Geste antun. Mir zulächeln – nein, hatte ich mich gestern nicht ausgelacht, weil das Lächeln nicht gelingen wollte. Ja, mich regelrecht ausgelacht. So langsam verstehe ich, warum ich mich verlaufe, am Spiegel vorbei. Ein bisschen mehr Respekt vor der Fratze könntest du schon haben. Schliesslich sind 70 Jahre kein Pappenstiel. Eingeschrieben nicht nur, sondern wie reingemeiselt ein langes Leben. Das ist nicht glatt zu kriegen. Nicht mit der feinsten Creme. Du solltest beginnen, durch die Fratze hindurch zu sehen, um die Dinge dahinter zu entdecken, um sie zu verstehen, warum sie so geworden sind. So schwer das Unterfangen auch ist – du solltest dir Mühe geben.
Es kommt vor, dass ich mich im Spiegel übersehe. Nur langsam gewöhne ich mir an, mich nicht ständig zu verlaufen. Dass das Dahinter wichtig ist, muss ich aufsagen wie eine Formel, Tag für Tag, dass es wichtiger ist, als die Angst vor der Fratze, diesem grimassen-ziehenden Untier.
Ich nehme jetzt einen anderen Weg, wenn ich mir begegnen will.

rosadora
als ich siebzig war…
aus: ZEITLEBENS

foto baustelle fraunhofer

ETEL ADNAN…

HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH ZUM 96. GEBURTSTAG…

es ist nicht wichtig, ob du dir widersprichst oder nicht, oder wonach du suchst – nach dem anderen, nach der wahrheit. WONACH ICH SUCHE IST DAS, WAS MAN POESIE NENNT. etel adnan – in gespräche mit meiner seele

um mich an dem alter von etel adnan zu messen, bin ich noch nicht alt genug, um zu wissen, wonach ich suche, doch sie gibt mir immer wieder wichtige hinweise – dinge, über die ich stolpere, dinge, die mich auch niederreissen und letztlich doch immer wieder aufrichten. um sagen zu können, dass es die poesie ist, wonach ich suche, bedarf es großer großer weisheit.
und
GEBURTSTAGSGRÜSSE VON GANZEM HERZEN, LIEBE ETEL
rosadora

BIN ICH EIN ROBERT WALSER FAN….

OHNE JEDEN ZWEIFEL…

Ich kam mir überhaupt, je mehr ich vordrang mit Schreiben,
wie behütet und wie beschützt vor von einem gütigen Wesen.
Robert Walser in: Geschwister Tanner

es freut mich sehr für ROBERT WALSER, dass er sich behütet und beschützt vorkam
und sich so sicher war, dass er äußerte:

Ich werde mit mir zu Ende sein, sobald ich mit Dichten fertig bin, und das freut mich.

wenn ich das von mir doch nur auch sagen könnte….

vor jahren, als ich in der schweiz lebte, habe ich mich intensivst mit seinem leben und werk
und seinem aufenthaltsort in herisau beschäftigt. ohne, dass ich etwas von ihm wußte, stolperte ich bei einem gang auf den robert-walser-weg
und meinen erkundungen über den fleck, an dem er zu tode gekommen ist, an einem 25sten dezember, seinem todestag. das hat mich sehr berührt und mich auf seine spur gesetzt.
in der einrichtung in herisau begrüßte mich WILLI und erzählte von ROBERT WALSER so, als wäre er eben grad mal bei einem seiner spaziergänge.
er zeigte mir seine räume, die, wo er gelebt hat. von da aus arbeitete und schrieb er. mit carl seelig war er 20 jahre unterwegs, der die erlebnisse mit ihm in einem buch festgehalten hat.

dass er ein ganz großer war/ist, davon ist auch THOMAS HIRSCHHORN überzeugt. mit seiner ROBERT WALSER SKULPTUR hat er 2019 in biel zeugnis davon gegeben und mit menschen gearbeitet, die auch robert walser ausgesucht hätte für seine begegnungen.
Thomas Hirschhorn, Bataille Monument, Documenta 2002. schon hier beeindruckte mich thomas hirschhorn und dem, dass er keine politische kunst mache, sondern der politik auf die sprünge helfen wolle. bis heute ist das so geblieben.
mit seinem RUINEN projekt in münchen in der villa stuck gab er mir wichtige denkanstöße bei meinem projekt ZUSAMMENBRUCH UND WIEDERAUFBAU, mit dem ich seit der documenta 13 zugange bin und demnächst eine abschlußausstellung plane.
alles ist mit allem verbunden und aus einer ruine kann man den himmel sehen…

ÜBERWEBEN….

ETEL ADNAN….

https://www.deutschlandfunkkultur.de/hoerspiel-nach-etel-adnan-ueberweben.3684.de.html?dram:article_id=480127

deine seele, die die meine liebet,
ist verwirkt mit ihr im tibettepppich…

DEKADENZ…
aus etel adnans ÜBERWEBEN – hörspiel

…wir sind lebendiges fleisch, das in kühlschränken altert
…wir hören wüste sprüche im radio
…unsere wahlkämpfe sind zum kotzen
…in den verwaltungen sitzen gestrige und niederträchtige leute
…wir atmen ruß und schlucken autoabgase
…wenn es so weitergeht, werden wir täglich eher benzin als wein trinken,
um zu überleben und um uns daran zu erinnern,
DASS ES EINST ENGEL GAB
d. h. indianer und beduinen…
halten wir, die augen voller tränen, die uns blenden,
vor dem haar eines kamels inne,
vor der wolle eines schafes,
vor einer pflanzenfaser…

mit dank an sylvia hagenbach
die mir diesen tip gab

SPRUCHBÄNDER…

GESPRÄCHE MIT ENGELN….
20.06.09


lisa – 5 jahre

DAHIN
hast du dich verkrochen
ich suchte dich schon
auf allen wegen
vom himmel
bis zur erde
erklang dein summton
zwischen den dingen
zwischen den menschen
die geschäftig tun
in diesen tagen

sagtest du nicht
dass es kommen wird
das grosse licht
das die menschen erlöst
was suchen sie dann
in den regalen der läden
komm heraus
aus deinem versteck
läute das aus der hektik
gib das licht
das du versprachst
leg es ihnen ins herz
damit sie ruhe finden

rosadora

ROGER WILLEMSEN..

Roger Willemsen signature.svg

nach 5 jahren vergißt man schon mal jemanden. roger willhelmsen bleibt mir unvergessen.

ein älter beitrag von mir – 13.02.2006 – ruft ihn ins gedächtnis, literaturhaus hamburg:

FEUER FEUER…

er erzählt reisserisch. es ist kein erzählen, es ist ein begeistertes zueinanderbiegen von literatur, die sonst nie zueinander finden würde. casanova kommt bei ihm gut weg, sehr gut sogar, und ich frage mich, was fehlt ihm, dass er so ins schwärmen gerät, wiederholend betont. was literatur kann, das ist nach seinen vielschichtigen ausführungen erst einmal ganz klar – beigeistern. und danach so unklar, so vieldeutig zu sehen wie zuvor. dass sie schwachen eine stimme geben kann und soll, ist nur eine seite. unzählige möglichkeiten was sie noch kann und soll hier anzuführen, wäre langweilig und vermessen.

auf das stichwort emanzipation zeigt er auf mich, ja sie, sie meine ich. ich muss aber nur eines nach einem grossen glas bier – pinkeln, pinkeln und nichts wie raus. ja, gehen sie nur. sagt er auch, und ich denke im eilen, ich komme (aber) wieder. als ich wiederkomme, bleibe ich an der tür an einer säule gelehnt. ich bitte sie, kommen sie, kommen sie nur. ich sage auch nichts mehr.
das kann er, einen ganzen saal voller menschen zum lachen, fast zum jaullachen, ja brüllen bringen. ich denke nur, anders könnte ich seinen redefluss nicht aushalten. seine lacher befreien von verkrampftem zuhören und sich überfordert fühlen. und das ist man in jedem fall bei der geschwindigkeit, bei dem umschwung, den er nehmen kann in der auswahl von literatur.

ich frage ihn zum schluss, wie er das macht, all das in seinem kopf zu behalten und sinnvoll aneinanderzureihen. überschwenglich und wie erlöst antwortet er wie ein kleiner junge, dass er erst dachte, er würde das heute abend gar nicht schaffen. völlig ausgelaugt sei er gewesen und fertig, noch kurz vor dem vortrag. aber als er dann anfing, gings einfach so weiter.
er kann schwächen zugeben, das macht ihn mir sympathisch. bleibt zu hoffen, dass er es nicht gänzlich zu seinem programm macht. eigentlich ist er ja schon dabei. das würde ins gegenteil umschlagen (bei mir).
sein hellwacher geist, sein witz und humor – ach wären sie doch verbreiteter auf dieser welt…

NEUES JAHR….

EIN JAHR UND NOCH EIN JAHR…

das jahr beginnt – das jahr endet. erst ist es neu, dann ist es alt.
 das alte ist vorbei, das neue beginnt. diese lineare historische zeitidee reisst mir alles auseinander. 
zyklische zeit lässt nichts heraus fallen, nichts ist wirklich vorbei. alles ist in mir und dann liegt es nicht hinter mir, sondern vor mir. ich kann es anschauen. das was kommt, ist nicht sichtbar. 
in amarete in den anden, bolivien, sehen die menschen die zukunft hinter sich, weil sie diese ja noch nicht sehen können und die vergangenheit liegt vor ihnen. (ina rösing kennt sich da genauer aus).
von was soll ich mich da am ende eines jahres verabschieden, wenn es doch in mir bleibt. und ein jahr neu beginnen hiesse, es schon gut vor mir sehen zu können, was nicht so ist. von dingen kann ich lassen, von orten schon eher nicht. immer wird ein ort mit den menschen in mir gegenwärtig sein, mit dem erlebten, mit dem erlernten auch. und meine spur kann ich nicht irgendwann abtrennen, wenn es mir nicht mehr passt. meine spur beginnt mit meiner geburt und endet mit meinem tot und vielleicht darüber hinaus – wer weiss… vielleicht sind ein paar knoten drin, vielleicht auch erinnere ich mich nicht an die ganze strecke meiner spur, doch sie bleibt teil von mir, vielleicht bin ich auch die spur.

Terzette, die Herz und Seele berühren….

Die LYRIKERIN ELSBETH MAAG veröffentlicht ein neues Buch

foto: benjamin manser

Die Buchser Lyrikerin Elsbeth Maag hat 69 Terzette in Buchform veröffentlicht. Der pensionierte Buchser Kantonsschullehrer Valentin Vincenz hat die Texte ins romanische Idiom Sursilvan übersetzt.

unruhige nacht
der mond im streit
mit den wolken

rosen am zaun
malven und mohn
die gärten feiern

pappeln im wind
sie üben das fliegen
ich fliege mit

die schlammzungen
die deutlichen reden
des rheins

im sturmwind der
bizarre fächertanz

BUCH :   T E R Z E T T E

lyrik von ELSBETH MAAG – ins rätoromanische übersetzt von valentin vincenz                   24 CHF  erhältlich im buchhandel und bei
e.maag@rsnweb.ch und vvincenz@bluewin.ch

SPIELE DAS SPIEL…

PETER HANDKE – aus „über die dörfer“….

“Spiele das Spiel. Gefährde die Arbeit noch mehr. Sei nicht die Hauptperson. Such die Gegenüberstellung. Aber sei absichtslos. Vermeide die Hintergedanken. Verschweige nichts. Sei weich und stark. Sei schlau, lass dich ein und verachte den Sieg. Das stimmt. Beobachte nicht, prüfe nicht, sondern bleib geistesgegenwärtig bereit für die Zeichen. Sei erschütterbar, zeig deine Augen, wink die anderen ins Tiefe, sorge für den Raum und betrachte einen jeden in seinem Bild. Entscheide nur begeistert. Scheitere ruhig. Vor allem hab Zeit und nimm Umwege. Lass dich ablenken. Mach sozusagen Urlaub. Überhör keinen Baum und kein Wasser. Geh ein, wo du Lust hast, und gönn‘ dir die Sonne. Vergiss die Angehörigen, bestärke die Unbekannten, bück dich nach Nebensachen, weich aus in die Menschenleere, pfeif auf das Schicksalsdrama, missachte das Unglück, zerlach‘ den Konflikt, beweg dich in deinen Eigenfarben, bis du im recht bist und das Rauschen der Blätter süß wird. Geh über die Dörfer. Ich komme dir nach.”

und vor allem – BEWEG DICH IN DEINEN EIGENFARBEN… rosadora