ROBERT WALSER…

* 15. April 1878 in Biel, Kanton Bern; † 25. Dezember 1956 nahe Herisau, Kanton Appenzell Ausserrhoden

…Dauernden Lebenssonnenschein
kannte ich noch nie.
Mangel ist mein Geschick;…

robert walser – aus: Im Bureau – 1897/98

vielleicht ist mangel notwendig, so herzweitende gedichte zu schreiben, vielleicht, um an das innerste des inneren zu gelangen, wie er es in den jahren seines aufenthaltes in der Heil- und Pflegeanstalt Herisau erfahren hat.

keines der fotos, das robert walser zeigt, wird ihm gerecht. ich kann ihn nicht darin entdecken. wie wohl auch zu seinen lebzeiten ihm, seiner person, niemand gerecht wurde.
er war nicht irre – er war nur verschroben, so sagte man. aber man sagt so vieles über einen menschen, und nie kann es stimmen. ein mensch besteht aus so viel eigenheiten, die man ja nicht kennen und schon gar nicht erkennen kann.

seine texte sind wie perlen, die zu mir herrollen, aber auch wie dicke brocken, die ich nicht verdauen kann. immerhin hat er sie aufgeschrieben, was ja schon eine eigenheit an sich ist, und in der art und weise, in der form, wie er es getan hat. denke ich nur an sein BLEISTIFTGEBIET – das ist über hundert jahre her. heute wäre das vielleicht gar nicht mehr so abstrakt – ja man sucht ja förmlich nach dem anderen, nicht normalen.

ich lese ihn, wenn mir niemand mehr was sagen kann, wenn keiner einen rat weiß. dann ist mir seine unermüdlichkeit und sein – fast möchte ich sagen – starrer sinn ein zeichen. und immer finde ich ein bröcklein, das mir schmeckt.

DIE MUTIGEN…

SÁNDOR MÁRAI –  in HIMMEL UND ERDE…

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schätzen kann ich nur noch die, die den mut haben, auch nutzlos zu fühlen. jene, die das wagnis eingehen, nutzlos zu denken. alle sind wir schon so zielstrebig… so tauglich. ich schätze diejenigen, die sich trauen, wörter zu denken wie „ich“. oder: „ich liebe dich, schöne kalte langeweile“, schätze aber keinen mehr, von dem ich annehmen muß, dass ihm auch noch etwas einfallen könnte, wenn er tagsüber so beginnt: „bezüglich der bestehenden möglichkeiten…“

ERWACHEN…

Night Palace
joanne kyger
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the best thing about the past is that it is over when you die. you wake up from the dream that´s your life. then you grow up and get to be post-human in a past that keps happening ahead af you.

Das Beste an der Vergangenheit ist, dass es vorbei ist, wenn du stirbst. Du wachst aus dem Traum auf, das ist dein Leben. Dann wachst du auf und wirst in einer Vergangenheit post-menschlich sein, die vor dir vor sich geht.

ETEL ADNAN
„der gedanke, dass du erwachst, wenn du stirbst – erwachen anstatt für immer schlafen, dass du eine vergangenheit bewohnen wirst… du weißt es nicht, du kannst es nicht erklären…“

ETEL ADNAN_I_P1610435also, ich muß es durchdenken – das leben ein traum. das sagt man schon mal und wir glauben doch, dass es nicht realistisch ist. dass ich erwache, wenn ich sterbe, das könnte mir gefallen. nicht auferstehen, nein, das körperliche abstreifen. erwachen heißt auch, begreifen, verstehen, das wäre schön, dass mir das gelingt, worum ich mich ein lebenlang bemüht habe. ja, ich denke, dass ich mich bemühe auf meine weise, neugierig wie ich nun bin…
ich könnte mir ausmalen, wie es dann sein wird, aber wie etel sagt, du weißt es nicht, du kannst es nicht erklären. spekulationen sind gestattet in dem bewußtsein, dass es eben spekulationen sind. sie geben keine sicherheit, vielleicht einen kleinen trost und dass meine anstrengungen von diesem erwachen abgelöst werden…

ERREGUNG…

„Im Februar gerät die Jahreszeit in Erregung, knapp unter dem Erdboden.“
Etel Adnan in Jahreszeiten
BOT. GARTEN KS_MÄRZENBECHER_P1610391frühblüher wagen sich heraus, sie warten nicht auf das frühjahr. sie erwecken in uns die hoffnung, dass alles seine ordnung hat.
freude kommt in uns auf. grundlos wie mir scheint, wir sind noch nicht über den berg.die vögel waren auch zuversichtlicher als in jedem jahr vorher. sie haben den weiten weg vom süden auf sich genommen, ohne dass hier ihr leben in sicherheit wäre.

BOT. GARTEN_KS_WINTERLINGE_P1610131die erde bläht sich auf, oder sind es die pflanzen, die das bewirken. so in frühjahrsform haben wir vertrauen in sie. dank der klimaerwärmung recken sich die pflanzen schon vor der zeit in position. der winter könnte unserer freude einen strich durch unser befinden machen. er hat schon so manches schnippchen hervorgezaubert. schnee im mai und unsere freude erhält einen knick.
nehmen wir die freude als geschenk, auch wenn sie nicht von dauer ist.

WETTER UND POESIE…

ETEL ADNAN aus einem gespräch mit klaudia ruschkowski

ETEL ADNAN_GRIECHENLAND_II_P1610399ich halte das wetter für ein höchst poetisches element.
wir schwimmen im wetter, wetter ist die luft, die uns umgibt. wir befinden uns im wetter, als wären wir mitten in einem see, genau wie ein fisch im wasser. wie ein flugzeug oder ein vogel in der luft. das wetter beeinflußt uns, es gibt immer irgendein wetter. es ist zu heiß, zu kalt, nicht warm genug, nicht kalt genug, gutes wetter, schlechtes wetter – selbst wenn wir das wetter nicht spüren, ist es doch da. wir spüren es nicht, weil es sich um einen bestimmten zustand handelt. ich liebe das wetter…“

aus JAHRESZEITEN

GRIECHENLAND KOMMT ZU HILFE…

ETEL ADNAN_GRIECHENLAND_I_P1610398„Es gibt Schriften, die sich der Wahrnehmung entziehen. Die trianguläre Gestalt der Sprache wirkt auf die Vorstellung: ein Ansturm an Sein. Druck wirkt auf die Zeit, beugt sie. Die Beugung überträgt sich auf die Seele, die versucht, dem Abgrund zu entkommen, während ihr davor graut, noch tiefer zu fallen. GRIECHENLAND KOMMT ZU HILFE.   Türen schleifen und verhüten die Rückkehr der Zukunft.“

E T E L _ A D N A N …

Etel Adnan,
Schriftstellerin und Malerin, geboren 24.02.1925 in Beirut, Libanon
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ZUM 92. GEBURTSTAG ALLES GUTE…

Auf der dOCUMENTA (13) 2012 war sie eingeladen, ihre Bilder und Zeichnungen zu zeigen, Geheimtipp und Shooting Star zugleich.
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Etel Adnan, die am 24. Februar 2017 92 Jahre alt wird, ist eine der wichtigsten literarischen Stimmen unserer Welt. Ebenso nomadisch wie kosmopolitisch ist sie durch ihr Leben gezogen: zwischen Ost und West, alten und neuen Sprachen, Poesie, Literatur und Malerei: eine Reise voller Entdeckungen, konfrontiert mit immer neuen Kriegen, voll der Erinnerungen. In Gespräche mit meiner Seele kulminiert das, was sich durch Etel Adnans gesamtes Schreiben zieht: ein poetisch-philosophischer innerer Dialog.
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Wie spricht man mit der eigenen Seele? Die Seele, sagt Etel Adnan, ist ein eigenes Wesen, an das man vielleicht nie gedacht hat, das sich aber auf einmal bemerkbar macht: ‚Ich kann nicht anders, als mit dieser Seele zu sprechen, als wäre sie eine lebenslange Gefährtin. Wir waren eins, und wir waren verschieden. Wie begegneten wir einander? Was taten wir einander an?‘
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Etel Adnan hat sich zeitlebens mit den elementaren Fragen des Lebens auseinandergesetzt. Ihrer Wahrnehmung entgehen weder Momente des Alltags, Form und Funktion von Gegenständen, die Natur in ihren zahllosen Veränderungen, noch politische Konstellationen und Mächte, die skrupellos in unser Leben eingreifen. Sie versteht die Poesie als Mittel, Gegenwart sichtbar zu machen.

 

HILDE DOMIN zum gedenken…

22.02.2006
22.02.2017

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da ist es gerissen ‚das goldene seil’ – ‚da wird schon der name gerufen’ – ‚hinweg aus der….welt, …unter die alles vermengende erde.’
‚ich komme wieder’, hatte sie noch gesagt, ‚wenn ich hundert bin’. die worte sind noch in meinem ohr. ich habe mir nicht träumen lassen, dass sie das nicht wahr machen würde, diese kleine resolute person mit den grossen worten. da war sie neunzig. kraftvoll formte sie silbe für silbe, ihr sprechen hatte einen harten ton.
der ‚böse löffel’ des ‚vergessens’ fiel nun – fast unerwartet – in die ‚schale aus schatten’. unerwartet, weil fast ein hauch ewigkeit mit der person hilde domin verbunden ist. sie war schon zu lebzeiten eine legende. da will man nicht wahrhaben, dass sie eines tage nur noch legende sein wird.

‚…die pause ist vorbei.’ 
‚stehenbleiben und sich umdrehen hilft nicht. es muss gegangen sein’. dieser letzte weg von den ‚verlierbaren lebenden’ zu den ‚unverlierbaren toten.’
 viele ihrer lebenden hatte sie schon lange verloren auf unterschiedlichste weise, aber letztlich doch die meisten durch das grosse grauen, das in die welt gekommen war. da ist es ein trost, sie bei den toten zu wissen, zu denen sie nun gehen wird, zu den unverlierbaren. 
auch von sich muss sie sich nun trennen. ‚ich muss mich von mir trennen. ich werde weggeführt von mir’. sie hat den weg lange vorher angedacht, obwohl sie hundert werden wollte. die verlängerung der lebenszeit für erfahrenes leid, für ihr genommene möglichkeiten.
 schon lange ‚immer wieder die schwarzen vögel über mich wegfliegend. diese frühaufsteher… und des abends… ein verspäteter, der in meinem haar übernachtet. ’
immer sehen wir sie, diese schwarzen vögel, immer sehen wir sie, wie sie über und um uns kreisen. ‚immer’ ihnen gegenüber ‚die geste der tapferkeit.’ obwohl wir sie, diese schwarzen verkünder, nur angsvoll ertragen und lieber haben, wenn sie andernorts kreisen – trotz der gewissheit ihrer existenz und das gerne vergessend.
 doch einmal werden ‚wir hingelegt und alles für immer erinnern – oder vergessen.’ diese unsicherheit, der wir nicht vorgreifen, der wir uns still ergeben und auf erlösung hoffen in dem erkennen: 
‚dein tod oder meiner – kostbarster unterricht: so hell, so deutlich, dass es gleich dunkel wird.’

‚am ende ist das wort,
immer
am ende
das wort’.
ich war hier. 
ich gehe vorüber
 ohne spur.
 die ulmen am weg 
winken mir zu wie ich komme,
 grün blau goldener gruss,
 und vergessen mich, 
eh ich vorbei bin.
ich gehe vorüber – aber ich lasse vielleicht 
den kleinen ton meiner stimme,
 mein lachen und meine tränen 
und auch den gruss der bäume im abend 
auf einem stückchen papier.

AN DIE BÄUME IM WINTER…

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gute bäume,
die ihr die starr entblätterten arme reckt zum himmel
und fleht wieder den frühling herab!
ach, ihr müßt noch harren, ihr armen söhne der erde,
manche stürmische nacht, manchen erstarrenden tag!

aber dann kommt wieder
die sonne mit dem grünenden frühling euch;
nur kehret auch mir der frühling und sonne zurück?
harr geduldig, herz, und bring in die wurzel den saft dir!
unvermutet vielleicht treibt ihn das schicksal empor.

Johann Gottfried von Herder (1744 – 1803)

… WO ICH BIN, DIE WELT…

CLARA ELBPHILHARMONIE JAN. 2017_DSC_2192elbphilharmonie – eröffnung – foto: clara tuschick

 

stillhalten. sich um nichts bemühen.
nicht um reisen und ruhm,
nicht um liebe und geld.
es kommt, was soll.
zu frühen ruhm soll man fürchten.
in unserer welt ist nichts
ohne preis des verzichts zu haben.
die lange entbehrten sind entbehrliche gaben.

ist man alt,
schätzt man hoch, was man hat:
einen sonnenmorgen im frühen april.
an der birke das erste knospende blatt.
und die freiheit zu sagen: ich will – ich will nicht.
niemand kann mich zwingen,
um geld und ruhm mein lied zu singen,
wenn ich beides nicht brauche.
ich kann drauf verzichten, dass man mich kennt.
ich kann heimlich dichten.
und immer
ist da, wo ich bin, die welt.

eva strittmatter