F L I E G E N . . .

ETEL ADNAN

‚ich werde mir flügel wachsen lassen und fliegen‘

FLIEGEN_ROSA_ART3

botschaften senden aus dem all fallen die gedanken auf die strassen haben ihren sinn verloren sind die menschen ohne den druck der engel verblassendes weiss verblendet sie haben fremderen wesen ihr vertrauen ist grenzenlos abgewirtschaftet werden die felder keine müde mark ist ihnen geblieben sind sie in alten bahnen verläuft es von meeresküste zu meeresküste sind sie gezogen wird immer nur das weisse an den rändern gibt ihnen zu denken brauchen sie nicht in den abgründen befindet sich eine ungeheure menge an glaubwürdigkeiten wird es mangelt ihnen an diesem und jenem sind sie nicht mehr interessiert gehen sie von einem ort zum nächsten zufallsprodukt werden sie gezwungenermassen haben sie einen grösseren radius müssen sie erst noch in ihrer wahrnehmung haben längst sind die verschiedensten ideen lassen sich nicht in das gehirn ist eine breite nervenmasse schwirrt ihnen vor augen haben sie immer nur das eine ist weiss ganz weiss…

rosadora
11.4.2013

GENAU EIN WORT…

„manchmal fehlt nur ein wort, genau ein wort, dieses gewisse, das den satz, das kapitel, vielleicht das ganze buch lebendiger, sinnvoller, echter macht. dieses gewisse wort, das die wahrheit ausspricht, aber so sanft und kraftvoll, so wohlklingend und schrecklich, so wahr und mit peitschender schärfe, wie das schicksal beim namen genannt werden will. nur dieses wort fehlt, manchmal, meistens. der satz fliesst schon so schön, alles passt – attribut, verb, substantiv -, ist schlüssig und farbig! nur leider fehlt ihm der sinn, weil ein wort fehlt, ein einziges – welches? moment, ich sag´s dir sofort, es liegt mir auf der zunge.“

sándor márali

BAUMLEIDENSCHAFT…

abende gleiten vorüber gehen nirgendwohin
bäume sind der leidenschaft fähig
die aprikose und die maulbeere
lassen kein auge voneinander
sie reisen zu zweit
und geben angeregte uralte laute von sich
wenn sie sich paaren
die nacht zerreissen
nicht anders als blitze

etel adnan
aus: jahreszeiten

schriftstellerin und malerin
geb. 1925 in beirut
teilnehmerin der dOCUMENTA 13

DAS CHAOS UMKREISEN…

bäume haben viel leben
dank ihres zusammenstosses
jahr für jahr
mit dem frühling
sie sind im boden verwurzelt
im gegensatz zu den tieren
ihre seelen sind leichter
dem vergessenen ursprung näher
sie kennen jeden der kommt
und wissen
dasein heisst
das chaos zu umkreisen

etel adnan
aus: jahreszeiten

schriftstellerin und malerin
geb. 1925 in beirut
teilnehmerin der dOCUMENTA 13

EIN ENGEL WERDEN…

EIN ENGEL WERDEN…

etel adnan:
„…denn je weiter wir nach „aussen“ gehen, desto mehr werden wir uns „innen“ wiederfinden.

…und wenn wir jenseits von raum und zeit angekommen sind,
wird sich etwas anderes erschliessen.
wir werden wissen,
was es für den menschen bedeutet
ein engel zu werden.“

alles ist in allem
materie nimmt gestalt an
doch die ist nicht in alle ewigkeit festgelegt
aus diesem kann auch jenes werden
in einem baum befinden sich unzählige gestalten
sie treten hervor und ich kann sie sehen
nicht immer
ich muss mich einstimmen einschwingen
und der baum muss bereit sein
sich mir zu schenken
mich einzuweihen in das grosse geheimnis

diesen engel fand ich bei meinen fotoarbeiten im urwald
ich nahm ihn mit mir
seiner beschützende geste wollte ich mich
ergeben
ich wollte schreiben versichern
aber das geht nicht
nur solange ich diesen schutz wahrnehme
ist er auch da für mich
gerät er in vergessenheit
verschwindet er

BLAUES GEGEN WEISS . . .

sätze III
frühling

frühling lässt sein blaues entspringt dem weiss wie alle farben haben sich vereint im regenbogen lassen wirs gut sein deshalb können wir doch nicht auch noch der ganze sommer ist voller warmer tage sind die nächte länger als das meer hält diese sanfte wucht von uns ist nichts ausgegangen sind wir haben die orientierung ganz verloren gegangen ist uns das was wir finden wollen wir nicht verlieren wir das spiel hat begonnen in der sonne hat der staub sich erheben ist ein gewinn den wir haben uns die ferien nicht ausser acht lassen wir doch die tage vergehen wie im flug sahen wir über den häusern legt sich nebel war nicht in unserer vorstellung sind wir längst zuhause wäre es auch ganz schöne fassaden können wir sehen die zukunft voraus eilt das kleine schiff hat uns übergesetzt sind wir ans andere ufer nehmen wir uns mit der zeit lässt sich nichts bewegt unsere gemüter waren schon sehr flexibel muss man sein wenn der regen am himmel wird ein blauer streifen sichtbar sind schon die späteren wetter haben auch noch etwas wechselvolles geschehen bereichert die ferien gehen zu ende

SOLIDE BEZIEHUNG…

ich habe eine solide beziehung zum universum aufgebaut
da bin ich mir sicher
ich bewege mich frei zwischen sonne und mond
ich gehe noch weiter
ich stürze mich in schwarze löcher und tauche heil wieder auf
ich reite auf kometen zähle galaxien
ich bin auf du und du mit lichtjahren und all das
seit ich in sekundenschnelle zum rand des universums gereist bin
und die seltsame bewegung die ich dort angelangt erlebte
ahnungsvoll für den beginn eines chaos hielt

etel adnan
libanesische malerin und schriftstellerin
dOCUMENTA 13
aus: im herzen des herzens
eines anderen landes