KUNST IST LEBEN…

…SPRACHE IST KUNST

als mein vater aus dem krieg kam, war ich zehn jahre alt. wir hatten auf ihn gewartet und gewartet und gewartet – so lang kann man eigentlich gar nicht warten – und dann dies.
mäjen, din fadder is heim gekummen. und ich rannte und rannte und dann stand da dieser verwahrloste dreckige typ, den ich nicht kannte. meine enttäuschung war groß – so groß.

nachdem er sich nackt ausgezogen und in unserer zinkbadewanne geschrubbt hatte, war er das familienoberhaupt, basta.
er entpuppte sich als der große verhinderer und despot. er war furchterregend durch knallharte ansagen und verbote, war laut und gewalttätig.
hatten wir bisher versucht, die sprache der dorfbewohner zu erlernen, kam er nun und polterte sein kasseler platt. ich fuhr jedesmal zusammen, wenn sein kasernenhofton erklang.
unsere mutter sprach mit uns ihr nicht sehr ausgeprägtes hohes deutsch.

an den tag und den ort kann ich mich noch erinnern als ich beschloss, nicht so zu sprechen wie mein vater, den wir vati nannten. erstmal versuchte ich den slang meiner jungen lehrerin nachzuplappern – so etwas wie frankfurterisch. später dann entschloss ich mich, hochdeutsch zu erlernen – aber woher. in kassel wurde kein hochdeutsch gesprochen. an was ich mich orientierte, kann ich heute gar nicht mehr sagen. es war ein langsames herantasten, ein bröckchen hier, ein bröckchen da, und niemand konnte sagen, woher ich komme.

zwischenzeitlich muß es ziemlich geheimnisvoll geklungen haben. und meinen vater trieb es auf die palme, brachte ihn zur weißglut. er unterstellte mir, ich wolle etwas besseres sein. auf jedenfall wollte ich nicht in seinen tonfall einstimmen. das wurmte ihn – ja, ja, ich sollte ja ein junge sein und war nur ein mädchen. deshalb hatte er mich auch von der schule genommen mit der begründung – mädchen heiraten ja doch.

spät erst, nachdem ich alle bildungseinrichtungen genutzt hatte, die mir offen standen, studierte ich grafik design mir schwerpunkt fotografie. danach reizte ich die möglichkeiten der germanistik aus – mit schwerpunkt ästhetische kommunikation. im kurs für ausländische studierende war ich diesjenige, die die korrekte aussprache hersagen durfte. erst da wurde mir bewußt, dass ich die leiter des hochdeutschen wohl aus eigenen kräften erklettert haben mußte.

heute früh im bett, wo mich immer mal wieder lichtblicke, denkbänder, blitzschläge oder grübelmonster heimsuchen, erinnerte ich mich an einen vorfall im st. gallener kunstmuseum.

ein seminar oder vortrag
ZUR ENTWICKLUNG UND EINSCHÄTZUNG VON BILDHAFTEM

ist bildhaftes, im pc erstelltes, KUNST

ich nahm mir das wort
war stolz auf mich
vor all den schweizer/innenn zu sprechen
und gab ein statement
von dem ich selbst nicht die geringste
ahnung hatte
also
ja
die entwicklung wird dahin gehen
dass kunst aus dem pc einmal als kunst
anerkannt wird usw. usw.

danach kamen zwei weissgekleidete frauen zu mir
lobten meine aussprache und den warmen klang
meiner stimme

schweizerinnen
die kunst machten
so stellten sie sich mir vor
ganz in weiss
also alles was sie umgab war weiss
sie erzählten von ihrem zuhause
wo alles weiß war
vom tisch bis zum schrank bis zur kaffeetasse
sie waren künstlerinnen, wie sie sagten

ich habe sie nie besucht
und wohl auch kein großes interesse gezeigt

aber geschmeichelt hat es mir doch
meine klanghafte stimme gerühmt zu hören

ich wagte mich auch an lesungen heran
rose ausländer z.b.
in der schweiz und in deutschland

sprechen ist nichts selbstverständliches
wenn doch, ist es geplapper

rosadora 09.08.2020

8 thoughts on “KUNST IST LEBEN…

  1. hallo sonja,
    ja, mich hat es auch so umgehauen wie nie.
    das alter läßt vielleicht auch näher sein an den erinnerungen.
    danke für dein gezeigtes interesse.
    liebevoll
    rosadora

  2. Danke, liebe Rosadora,
    dass du diesen Teil deiner Biografie so eingehend und bewegend schilderst. Respektive dein Erleben während der Entwicklung deines ganz individuellen sprachlichen Potenzials.
    Diese auf dich bereits als Kind so drastisch einwirkenden ‚Verbalitäten‘, waren womöglich andererseits auch impulsgebend für die Heranreifung einer inneren Kraft, die dich fürderhin antrieb, so zu werden, wie du sein wolltest (und bist), und nicht so, wie du – u.a. durch Diktat eines dir ‚fremden‘ Vaters – hättest werden bzw. sein sollen.
    Nachdenkliche Grüße – Monika

  3. Deine kriegs- und vaterversehrte Kindheit geht unter die Haut, liebe Rosadora.
    Dagegen hatten wir die reinste Familienidylle, mit kleinen Dellen vielleicht, aber nicht vergleichbar.
    Ebenfalls nachdenkliche Grüsse,
    Brigitte

  4. Es bewegt mich sehr, was du schreibst, weil es so unmittelbar ist und weil es mich in einigen Passagen an mich erinnert zum Beispiel beim Thema Sprache. Ich kann das – wenn auch aus anderen Umständen heraus – sehr, sehr gut nachvollziehen, welch großen Einfluss so eine Sprach-Heimat-Suche hat .
    Liebe Grüße,
    Andrea

  5. danke an euch alle
    es ermutigt mich, an meinen erinnerungen, die ich fast völlig verdrängt habe, weiter zu arbeiten.
    ja, zuhause hatte ich kein sprachrecht, nachdem der vater aus dem krieg
    gekommen war. mit 18 konnte ich meinem freund nicht einmal sagen, dass ich ihn liebe. mit 30 riss man mir die galle heraus, seitdem hab ich geschworen, dass mir kein wort mehr im halse stecken bleibt. heute rede ich ziemlich gern und manchmal ein bißchen zu viel…
    rosadora

  6. widerständig. richtig so! und ja, unbedingt weiter arbeiten. es ist wichtig, so wichtig. für dich – bestimmt auch mal für andere.
    auch bei mir kommen erinnerungen rauf. leider war ich nicht so wider-
    ständig, damals. aber es wird.
    grüßele
    Sylvia

    ja ja. den nächsten artikel habe ich ja schon eingestellt. danke für deine ermunterung – sagt frau so – und es gibt ja noch sooooooo viel mehr.
    danke und schöne grüße rosadora

  7. deine klanghafte stimme kann ich bestätigen!
    stundenlang könnte ich dir lauschen.
    jung klingt sie und jedes wort bekommt
    automatisch seine ihm entsprechende
    bedeutung. das ist eine gabe!

    das ermuntert mich, alexander, und danke dafür. habe schon überlegt, mal wieder eine lesung zu veranstalten. dazu muß ich ja nicht laufen.
    der kopf ist noch okay und fast zu rege…
    die gabe, wie du sie nennst, beachte ich nicht genug…
    rosadora

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