TERZETTE von ELSBETH MAAG…

Dreizeiler von ELSBETH MAAG, die ein guter Bekannter romanischer Herkunft ins romanische Idiom Sursilvan übersetzt hat…

 

Wasserglöcklein im Ohr
unter meinen Füssen
muss eine Quelle sein

bransins d’aua ell’ureglia
sut mes peis
sto ei esser ina fontauna

ich bin deine Sonne
sagte der Mond zum
Nachtwanderkäfer

jeu sun tiu sulegl
ha la glina detg
al bau da notg migront

Silhouette
unterm gestirnten Himmel wandern Bäume
von Hügel zu Hügel

siluettassut
il tschiel stelliu caminan plontas
da collina tier collina

 

und rosadora

das wasserglöcklein im ohr
es wird mir zum tinnitus
zum rauschenden fall

der mond
das bin ich
du wandelst in meinem licht

mit den bäumen
schreite ich des nachts
am tag bin ich blind

 

mohnrot tragen – immer wieder…

WENN ICH EINST ALT BIN…

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Wenn ich einst alt bin
trage ich Mohnrot
weil ich das Brennen nicht missen möchte
in meinen Gliedern
in meinem Herz
Einen grossen Hut
der weit auslädt
und das Gesicht anmutig verschattet
Ich werde stolz sein
wenn die Leute hinter mir tuscheln:
Da geht die verrückte Alte mit ihrem Hut
Vieles werde ich nicht mehr machen
Zuhören zum Beispiel
wenn ich nicht mag
oder bleiben wenn es mich langweilt
nicht mehr fächeln
mit höflichen Floskeln
sondern sagen wie es mir ist
Vieles aber
will ich noch tun
Rutschbahn fahren mit meinem Enkel
rumpurzeln im Heu
und lachen dazu
Leute ansprechen
im Tram auf der Strasse
die mir gefallen und fragen
wie geht’s?
Zeit mir nehmen für einen Schwatz
im Blumenladen die Ansicht
der Gärtnerin kennen lernen
über Jahreszeiten und Sträusse
Reisen
ein Weingut suchen im Herz der Toskana
weil mir das Etikett auf der Flasche gefiel
An die Nordsee fahren
weil ich Sehnsucht habe
nach grauen Stränden und frischem Wind
Was mir so einfällt
ein Nachtspaziergang
Düften folgen
und fliegen lassen Bänder im Wind
Unbekümmert und barfuss
lauf ich ins Grab

Elisabeth Schlumpf
Aus: Wenn ich einst alt bin … Kösel Verlag 2003.

AUCH DU BIST SEHR LEICHT…

HILDE DOMIN…

lege den finger auf den mund
rufe nicht
bleibe stehen
am wegrand
vielleicht solltest du dich hinlegen
in den staub
dann siehst du in den himmel
und bist eins mit der strasse
und wer sich umdreht nach dir
kann gehen
als lasse er niemand zurück
es geht sich leichter fort
wenn du liegst als wenn du stehst
wenn du schweigst als wenn du rufst
sieh die wolken ziehn
sei bescheiden
halte nichts fest
sie lösen sich auf
auch du bist sehr leicht
auch du wirst nicht dauern
es lohnt sich nicht angst zu haben
vor verlassenheit
wenn schon der wind steigt
der die wolke verweht

die angst nach verlassenheit ist etwas, das uns ständig begleitet. es ist nicht leicht,
diese angst aus der palette der gefühle zu streichen.
vielleicht, ja vielleicht löst sie sich auf in anbetracht dessen, dass ‚schon der wind steigt’, vielleicht noch gepaart mit der sehnsucht, wie eine wolke zu verwehn.
sich so klein zu machen, sich so flach an den boden anzuschmiegen, dass jemand gehen kann, so als lasse er niemand zurück – das ist ein schönes bild. es liegt auch eine weisheit darin. aber wir wollen ja immer, dass wir nicht vergessen werden, dass etwas von uns bleibt.
Mir weht der wind schon manchmal um den kopf, aber zu registrieren, wann er ‚steigt’, das ist ein weiteres.

im zen gibt es einen spruch

WENN DU ETWAS GUT MACHST
HINTERLÄSST DU KEINE SPUR

auf unser leben angewendet gibt mir das eine ungeheure erleichterung.
alle anstrengungen, bedeutung zu erlangen, fallen da weg. ich kann tun, was ich tue, nur um es zu tun.
lange gespräche könnten sich anschliessen – vielleicht ergeben sie sich ja – vielleicht im allee cafè…

rosadora

älterer beitrag – er ist mir heute vor die füsse gefallen – irgendwie passend

AUS MIR AUSBRECHEN …

sätze, wie blitze…

ETTORE SOTTSASS  sagte heute in ‚sternstunden’ (SF), als er von seiner arbeit erzählte, ‚ich muss aus mir ausbrechen, um herauszufinden, ob das staunen noch funktioniert’.
der satz fand so sehr meine übereinstimmung, dass er mir in mein hirn einschlug. ich schrieb den satz auf, um ihn nicht zu vergessen und um später sagen zu können, dass mir das staunen noch nicht abhanden gekommen ist und wie überlebenswichtig mir das ist. (das schrieb ich 2006) aber damit es abhanden kommen kann, muss es ja erst einmal da gewesen sein.
wann lernt ein mensch das staunen? ettore sottsass führte die unverbildetheit der kinder an, die der welt gegenüberstehen und sie staunend betrachten. und dass es, spätestens, wenn sie in die schule kommen, unterbunden wird, durch vorschriften, wie etwas zu betrachten und zu beurteilen ist. futsch die ganze staunerei. was soll und was kann schule?!!! nicht immer nur gutes.

ich staunte, dass ein mann für sich ‚das staunen’ zur grundlage seines künstlerischen schaffens gemacht hat. er müsste den kindern erzählen, was ihn so begeistert, tag für tag, und warum. es könnte ein fach in der schule geben, das das staunen zum inhalt hat. ein mensch, der nicht staunen kann, ist einer grossen dimension beraubt. vielleicht haben die menschen deshalb so kleine, schmale augen, weil sie sie nicht mehr aufreissen, um die welt und die dinge staunend zu betrachten. es gibt lachkurse, wieso sollte es da nicht kurse geben, die das staunen (wieder) hervorzaubern.
so leicht führt er seinen stift, ettore sottsass, ob er häuser entwirft, oder stühle, oder keramiken, oder skulpturen. (ich muss den name hier schreiben, damit er sich mir einprägt, ich habe ihn bisher noch nicht eindrücklich wahrgenommen, dabei gibt es ihn, diesen ettore sottsass schon
88 jahre). sein lustvolles umgehen mit materialien und formen, das ist eine freude ihn zu sehen und dass es ihn gibt. es könnte mehr menschen geben, die mit enthusiasmus etwas zustande bringen, wenn nicht die schulen…

staunend die welt betrachten und jeden tag aufs neue. und immer neu schauen und entdecken, um zu verstehen. oberflächen – ich werde demnächst nur oberflächen fotografieren, damit ich begreife, warum eine oberfläche so ist und nicht anders. vielleicht verstehe ich dann auch ein stückchen welt und warum sie so ist wie sie ist. das verständnis eines ettore sottsass werde ich freilich nie erlangen. aber das sichmühen zählt auch…

 

IMMER WIEDER…

ANGELUS NOVUS…

ENGEL DER GESCHICHTE

zur erinnerung…

Klee-angelus-novus

„Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“

 

                     – Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte (1940), These IX
                     wikipedia
diese menschen fehlen heute, die den durchblick haben, die warnen und raten könnten.
walter benjamin, HAP grieshaber…
und heute aussagen dürften, was sie denken und empfinden – bleibt – ihre worte von damals wenigstens heute zu verstehen…
heute:
die katastrophen scheinen nicht aufzuhören.weil die menschen aus vergangenem nicht lernen, wird es ihnen immer wieder vor die füsse geworfen. wie mir scheint, solange bis…
wie ein ständiger begleiter fällt mir benjamins ENGEL DER GESCHICHTE immer wieder vor die füsse, immer wieder in meinen sinn. fast verliere ich den glauben, dass menschen aus vergangenem lernen können. die geschichte wiederholt sich – immer wieder…

N E U E S J A H R . . .

2020 – ein NEUES JAHR
wenn ich etwas will – bekomme ich garnichts
will ich aber nichts – liegt alles – wie ausgebreitet vor mir

so geht es mir  mit diesem text
der etwas wll und soll
er soll das NEUE JAHR mit allen guten wünschen versehen

da es aber lange her ist und peter handke schon in
ALS DAS WÜNSCHEN NOCH GEHOLFEN HAT
das wünschen infrage stellte
mache ich gar nicht erst den versuch
das NEUE JAHR zu verklären

claudia sagt – es ist wie es ist
und ich sage – es kommt, wie es kommen muß

ich mache mir auch nicht die mühe
herauszufinden – wer das beeinflusst
wenn ich da auch so einen verdacht habe

und der satz JEDER IST SEINES GLÜCKES SCHMIED
stimmt nur so lange – wie der schmied selbst noch schmieden kann

und auch das WÜNSCHEN – so scheint mir –
hat an kraft und einfluss verloren

so schraube ich die hoffnungen und erwartungen nicht all zu hoch
und strenge mich an – mich nicht selbst zu enttäuschen
alles in allem also – es kommt, wie es kommen muß
oder auch ganz anders…

rosadora

AHMET ALTAN …

LASST IHN FREI…

Ich werde die Welt nie wiedersehen: Texte aus dem Gefängnis

EAN:9783103974256
Neu
12,00 €   bei medimops

»Ich werde die Welt nie wieder sehen. Ich werde nie wieder den Himmel ohne den Rahmen sehen, den die Wände des Gefängnishofes bilden.«

Am 16. Februar 2018 wurde der große türkische Intellektuelle Ahmet Altan in der Türkei zu lebenslanger Haft verurteilt. Altan ist einer der wichtigsten, mutigsten Journalisten der Türkei, der immer offen gesagt hat, was er denkt. Ihm wird vorgeworfen, »unterschwellige Botschaften« über den Putschversuch im Jahr 2016 verbreitet zu haben.
Im September 2018 ist im S. Fischer Verlag »Ich werde die Welt nie wieder sehen. Texte aus dem Gefängnis« erschienen. Es ist eine beeindruckende Sammlung teilweise sehr persönlicher, fast philosophischer Texte, in denen Altan auf eindringliche Weise über Freiheit, sein Leben im Gefängnis und die politische Situation in der Türkei schreibt. Ein eindrucksvolles Buch und wichtiges Zeugnis. Zum Erscheinen jährte sich seine Verhaftung zum zweiten Mal, denn seit dem 23. September 2016 sitzt er in Untersuchungshaft.

medimops

das wertvoller ist als das Leben selbst…

dieser satz regt mich zum nachdenken an. ich weiß nicht, ob ich für mich eine antwort darauf finden werde. es wird eine lange zeit des nachdenkens geben…

wieder in haft – erhielt den geschwister scholl preis 2019

 

 

HIMMEL UND ERDE…

SÁNDOR MÁRAI – ABENTEUER…

du lebst, plötzlich springt dich das abenteuer an. was ist dieses abenteuer? niemand kennengelernt, billige, belanglose freude hat dich nicht angelacht, bist allein. und dennoch geschieht in diesen stunden etwas um dich herum. das leben wird, nachmittags um vier, plötzlich aufregend und gefährlich. allerlei zeichen weisen darauf hin, das alltägliche bekommt seinen sinn. eine tür öffnet sich, als hätte der bote des schicksals die klinke niedergedrückt. wie die klinge des meuchelmörders trifft dich der sonnenstrahl ins herz. du lauschst, witterst. was ist das für ein abenteuer, das da herinbrach ins schläfrige, bleierne dasein? dann, plötzlich, verstehst du und wirst blaß.
verstehst, daß du lebst. dies ist das einzige abenteuer.