ZEITVERSCHIEBUNG…

ANRI SALA
clocked perspektive

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über zeit lässt sich immer wieder spekulieren oder auch philosophieren, besonders mit und über die vielen, auf der dOCUMENTA 13 ausgestellten objekte, die auf vergangenes oder kommendes verweisen.
dieses mechanische gerät in gestalt einer uhr, angeregt durch ein von g. ulbricht geschaffenes gemälde aus der sammlung des astronomisch-physikalischen kabinetts in der orangerie, scheint dem schrägen erscheinen zu huldigen, übergross, korrekt in der zeit und doch so verzerrt.

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die zeit, die man bei einem langen gang durch die aue schon mal vergessen kann, wird einem hier wieder in aller deutichkeit vorgeführt. sie holt die vergessene zeit promt auf, appeliert an das gewissen sie ausser acht gelassen zu haben und durch eile wieder einzuholen, mahnt, was noch alles zu tun ist. nur die, die genügend zeit haben, lässt sie vollkommen kalt.
im spiegel der uhr finde ich meine anliegen nicht mehr…

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NICHT ZUM LEICHTEN VERZEHR…

IDA APPLEBROOG
tagebucheintrag 1975

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alles an die wand gepitscht – die allerintimsten eintragungen aus ihrem tagebuch.
erstmal bin ich verwirrt, verunsichert, was das ganze soll.
doch bei genauerem hinsehen tauchen unter diesen dramatischen ereignissen die „stillen momente“ auf. die zusammenhänge sind nicht zu erkennen, obwohl alles zusammenhängt…
herausgenommene fetzen stellen einen bezug her.
YUO ARE THE PATIENT – I AM THE REAL PERSON

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kind mit löckchen und krone
neben alter zähnefletschend
eine andere mit vampirzähnen
kind im unterhöschen
und
pappa wein doch nicht
i caressed it
it shit in

es geht um vergewaltigung
um machtmissbrauch
um falschverstandenes
um falsches vertrauen und missbrauchtes
dargestellte szenen als „narrationsmodus“

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„die geschichten sind nicht als wahrheiten gedacht…“
ida appelbroog überlässt es den betrachterinnen und betrachtern, ob sie für sich eine botschaft erkennen können oder wollen…
manch eine/r geht, das muss ich mir nicht anschaun, andere sitzen fest, wie an einem puzzle.
endloser konsum und endlose gewalt machen ida appelbroog zornig. das macht, dass sie malen muss.

eine grossartige künstlerin, eine mutige dazu, die genau hinschaut.

DIE HOHE KUNST DES NÄHENS…

ISTVÁN CSÁKÁNY
the sewing room

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zuerst eine nähwerkstatt, wie sie ästhetischer und staubfreier nicht sein kann.
kunst in doppelter hinsicht: zum einen die subtil und in mühseliger klein- und feinarbeit gefertigten nachbildungen der maschinen und einer ganzen nähwerkstatt – alles ist genau so, wie es war, als die produktion eingestellt wurde.
in holz gearbeitet strahlen die gerätschaften wärme aus, räumen dieser kühlen, aufgeräumten, menschenleeren atmosphäre etwas wie andacht ein. es ist wie eine verbeugung vor den arbeiterinnen und arbeitern, die einmal an solchen arbeitsplätzen geschafft und geschaffen haben.
zum anderen ist die massarbeit von anzügen hohe kunst, hohe kunst der arbeit. arbeit ist ein teil jeder kunst, ob handwerklich oder gedacht.

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eingefrorene zeit. sie bringt mich in eine zeit, die einmal war. mir fällt ein: SINGER. ich selbst habe auf einer singer-nähmaschine, ähnlich diesen modellen, genäht, meine mutter hat darauf genäht, mein grossvater, den ich nie kennengelernt habe, war schneidermeister.
es fällt mir weiter ein, dass ich mir als vierjährige mit der nähnadel durch meinen zeigefinger stach. meine mutter steckte mir den finger kurzerhand in einen becher mit wasser, das sich sogleich blutrot verfärbte. ich war so stolz auf mein blut und dazu gleich einen ganzen becher voll. vom nähen hat es mich nicht abgehalten.
nach dem krieg war nähen auch eine kunst. meine mutter nähte alles, vom kleid, über unterhosen und stoffschuhen bis hin zur gardine, einfach alles. später tat ich das auch.

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der sewing room ist also ein raum der erinnerungen. er erinnert an vergangene zeiten und den damit verbundenen erlebnissen und ereignissen. schade, dass ich mich nicht einmal an eine der maschinen setzen darf.
es geht auch mal wieder, wie bei so vielen werken darum, dass die verbindungen unterbrochen sind. sie sind durchtrennt, abgerissen. das abgetrennte finden wir in unseren erinnerungen wieder.

ZEITGEBUNDEN ZEITLOS…

WILLIAM KENTRIDGE
the refusal of time

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„widmet sich der entwicklung von verfahren zur normierung der zeit im industriezeitalter des 19. jahrhunderts, als die moderne gesellschaft durch die vernetzung standardisierter uhren gestalt gewann“.

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und so ticken sie und hüpfen sie, nicht nur die zeiger der uhren, sondern auch die menschen, aufgezogen und derzeit auch noch innehaltend, wie das in heutigen zeiten fast nicht mehr geht, wie es heute bei uhren und menschen nur ein “ausgetickt“ gibt, aufgrund neuerer antriebs und umtriebsmittel.
tänzerisch wunderbar in szene gesetzt und umgesetzt, wird hier infrage gestellt, was zeit ist, ob es zeit gibt, wie sie uns zu schauspielerinnen, aber eher noch zu zuschauerinnen macht.
es faszinieren die ideen und einfälle, es fasziniert die vielschichtigkeit und umsichtigkeit. die abläufe an den verschiedenen wänden erregen, man möchte hinterher und alles wahrnehmen, was sich da gleichzeitig abspielt und gezeigt wird.

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das publikum ist wie hypnotisiert. so, wie es war, wie es ist wird es nie wieder. was, bitte, ist dann zeit? und was ist zukunft?
das grösste und interessanteste werk überhaupt auf der documenta 13.

SWING, MENSCH, ACH SWING DOCH…

ZWISCHEN QUAL UND FREUDE…
LLYN FOULKES
malerei ist meine qual, musik meine freude

ich schreibe hier von seiner freude, seiner musik.
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zufällig gerade ich in llyn foulkes live-darbietung.
es swingt und jazzt und jodelt, es ist die reinste freude.
ich kann nicht anders, ich swinge mit.
es ist mir unmöglich ruhig zu stehen.

in jungen jahren war kassel ein jazz-zentrum ersten ranges.
hansi hämer hatte das rosenhang-café,
(später wurde daraus das bolero und nun mundo).
im untergeschoss fanden regelmässige jazzkonzerte statt.
er holte die bekanntesten musiker hierher,
dave brubeck, oscar peterson, klaus doldinger,
gunter hampel, manfred schoof, um nur einige zu nennen.
auch der linke flügel der orangerie wurde bespielt,
noch vor dem rosenhangcafé.

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mit llyn foulkes hätte das rosenhangcafé gewackelt.
jazz, freejazz, das war auch bewegung, war tanz und beifall.
heute sitzen, stehen die leut hier herum, verziehen keine miene,
an bewegen ist gar nicht zu denken, wo es mich reisst und juckt.
ich mache mir meine gedanken, ob emotionen heute durch
das überangebot auf allen ebenen nicht mehr herauszulocken sind.
ich räume ein – es war auch kein platz zu ausschweifendem tanzen.

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llyn foulkes bringt leben in die bude,
lässt die documenta erklingen, das ist das grösste,
er ist der grösste.
von seinen bildern spreche ich ein andermal.

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LASS DICH FALLEN…

LASS DICH FALLEN
joseph beuys

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lass dich fallen
lerne schlangen zu beobachten
pflanze unmögliche gärten
lade jemand gefährlichen zum tee ein
mache kleine zeichen die JA sagen
und verteile sie überall in deinem haus

werde ein freund von freiheit und unsicherheit
freue dich auf träume

weine bei kinofilmen
schaukle so hoch du kannst
mit einer schaukel im mondlicht

pflege verschiedene stimmungen
tue es aus liebe

glaube an zauberei
lache eine menge
bade im mondlicht

träume wilde phantasievolle träume
zeichne auf die wände
lies jeden tag

stell dir vor du wärest verzaubert
kichere mit kindern
höre alten leuten zu
freue dich
tauche ein
sei frei

preise dich selbst
lass die angst fallen
spiele mit allem

unterhalte das kind in dir
du bist unschuldig
baue eine burg aus decken
werde nass
umarme bäume
schreibe liebesbriefe

EINMAL GESTORBEN SEIN…

CHARLOTTE SALOMON
LEBEN? ODER THEATER?
EIN SINGSPIEL

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DIES EREIGNETE SICH IM JULI 1940 AUF DEM WEG VON EINEM KLEINEN STÄDTCHEN IN DEN PYRINÄEN NACH NIZZA. EIN JAHR SPÄTER INDEM DIE WELT IMMER MEHR ZERFIEL – WÜRDE AUCH DER GEIST DES MERKWÜRDIG DOPPELSEITIG VERANLAGTEN GESCHÖPFES IM ZUSAMMENSEIN MIT DEM VOM TRAGISCHE VOM SCHICKSAL VERFOLGTEM GROSSVATER – IMMER MEHR ZERMÜRBT. UND DA DIES IN DIESER ZEIT MIT ALLEN MENSCHEN EBEN SO WAR SO DASS NIEMAND MEHR IMSTANDE

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HINEINZIEHEN LASSEN UND BLIEB ALLEN MIT IHREN ERLEBNISSEN UND DEM PINSEL. DOCH AUF DIE DAUER KONNTE EIN SOLCH TAGNÄCHTLICHES LEBEN SELBST BEI EINEM DAZU VERANLAGTEM GESCHÖPFE NICHT ERTRAGEN WERDEN. UND SIE SAH SICH VOR DIE FRAGE GESTELLT SICH DAS LEBEN ZU NEHMEN ODER ETWAS GANZ VERRÜCKT BESONDERES ZU UNTERNEHMEN. GÜNSTIGE VERHÄLTNISSE KAMEN IN DEM MENSCHEN, DEM ZUM DANK DIESES WERK GEWITMET IST – DAZU, DASS SIE SICH SICH ETWAS AUSRUHEN KONNTE UND ZU GLEICHER ZEIT VOLLKOMMENDSTE GE

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SIE VIELLEICHT VOR EINEM SELBSTMORDE BEWAHREN KÖNNTE, INSOFERN ALS SIE SICH AN EINEN IHRER HAUPTSÄTZE DIE AMADEUS STETS BEREIT WAR – VON SICH ZU GEBEN erinnerte LIEBE, ERKENNE DICH ERST SELBST, UM DEINEN NÄCHSTEN ZU LIEBEN UND DANN MAN MUSS ERST IN SICH GEGANGEN SEIN – IN SEINE EIGENE KINDHEIT, UM AUSSER SICH GEHEN ZU KÖNNEN. UND ER MEINTE, DASS DAS KIND DIE MASCHINE DES MODERNEN MENSCHEN SEI – ALS MITTEL – AUSSER SICH ZU GEHEN ALS LETZTES KAM IHR DAS BERÜHMTE LIEBESPAAR UNTER EINEM BADEMANTEL – DAS SO WIE EIN MENSCH FUNGIERTE – IN DEN SINN

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ZWEI DINGE – ERSTENS DASS DER DABERLOHNSCHE DER TOD UND DAS MÄDCHEN – DAS SIND WIR BEIDE – UND ZWEITENS, DASS SIE IHN IMMER NOCH GENAUSO LIEBTE WIE VORHER – UND WENN ER DER TOD WAR – DANN WAR JA ALLES GUT, DANN BRAUCHTE SIE SICH NICHT – WIE IHRE VORFAHREN – UMZUBRINGEN – DENN NACH SEINER METHODE KÖNNTE MAN JA ANDERS AUFERSTEHEN. SOLLTE JA SOGAR UM DAS LEBEN NOCH MEHR ZU LIEBEN – EINMAL GESTORBEN SEIN – SO WAR SIE JA EIGENTLICH DAS LEBENDE MODELL FÜR SEINE THEORIEN UND SIE ERINNERTE

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es gäbe so vieles zu sagen, aber charlotte salomon sagte es mit ihrem umfangreichen werk „LEBEN? ODER THEATER? EIN SINGSPIEL“ so, wie es ihr noch möglich war in der kurzen zeit ihres lebens. 769 exemplare wählte sie aus von 1.325 gouachen, die sie in den jahren 1941 und 1942 schuf (das stelle man sich mal vor).

sie wurde in berlin geboren, floh während der nazizeit zu ihren grosseltern an die französische reviera. viele der frauen aus ihrer familie hatten sich umgebracht. um nicht von diesem traumatischen wissen vereinnahmt zu werden, stürzt sich charlotte salomon in diese ausgeprägte schaffenswut.

sie und ihr kind, sie war im fünften monat schwanger, wurden 1943 in auschwitz umgebracht. ihr werk hatte sie in südfrankreich in verwahrung gegeben. 1961 wurde es zum erstenmal ausgestellt. die d13 hat sie gebührend in szene gesetzt.

WARUM NUR, WARUM…

WARUM NUR, WARUM…

KADER ATTIA
the repair from occident to extra-occidental cultures
„kulturelle rückgewinnung“

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so tief will ich in diese problematik nicht hinein. irgendwie muss ich mich schützen.
die verletzlichkeit des menschen und die von menschen beigebrachten entstellungen, die zerbrochene würde des menschen, wie jeder krieg nur menschenunwürdig ist, so gezeigt und vorgehalten zu bekommen – das muss jemand erst aushalten können.
ich frage einen älteren herren, was es ist, das die männer so mordlüstern sein lässt. er ist verduzt über die frage. er weiss es auch nicht, wendet aber ab, dass es doch auch von frauen geführte kriege gegeben habe. ich sage, dass ich mich da nicht so gut auskenne, erwähne die ägyptische hatschepsut, die kriege vermieden hat. es geht noch ein bisschen hin und her und ich sage noch, dass ich mich da schlau machen werde. wir begegnen noch einige male.

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ein frauenkopf von da vinci mutet versöhnend an, vielleicht soll es das unverletzte zeigen, das weiblich weiche gegen das männlich harte (aber das stimmt so ja nicht). eine junge frau, die hinter dem regal geht, hat fast den gleichen ausdruck.

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ein buch mit einer griechischen kore, die nicht ganz so unversehrt ist, wie da vincis mädchen. nur sind die verletzungen anderen ursprungs, keiner kriegerischen absichten. gefahren in der luft, die auch uns gefährlich werden können

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ich begegne kader attia, dem künstler. er lächelt, wie, um sich zu entschuldigen. aber er ist in einer anderen position. er hat seine arbeit getan und ist zufrieden.

WAS SOLL DAS BEDEUTEN…

WAS SOLL DAS BEDEUTEN…
documentahalle

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(scheinbar) leere wände sind immer besonders reizvoll. tritt eine person in diese leere, beginnt sie zu leben. postiert sich die person für eine weile an einer bestimmten stelle, wird sie zum teil der installation. aus nächster nähe erkundet sie die struktur, das geheimnis. im günstigsten falle hat sie ein eingebung, beginnt zu träumen, hebt ab.

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mein fotoauge sieht´s
würden sie sich für mich noch einmal so hinstellen
ich möchte sie gern fotografieren
na klar

danach sind wir plötzlich zu dritt
fotografieren sie mich auch
und sie mich ebenso
na klar

italienischer fotograf aus kassel
fotograf aus münchen
fotografin aus kassel

und dann entsteht ein spuk und heiteres hin und her
übereifriges erzählen
austauschen von visitenkarten

wir sehen uns

alles ist wichtig auf der dOCUMENTA
nicht nur die projekte
viel mehr noch die begegnungen

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